Graduiertenkolleg Wissensrepräsentation

an der Universität Leipzig


Entscheidungsunterstützende Systeme (Löffler, Rahm, Winter)

In der Wirtschaft wie im medizinischen Bereich sind Systeme, die Entscheidungsträger bei der Entscheidungsfindung unterstützen und damit die Qualität von Entscheidungen erhöhen, von immenser Bedeutung. Systeme dieser Art bilden deshalb den Anwendungsschwerpunkt des Graduiertenkollegs. Das für diese Systeme relevante Wissen besitzt die Eigenschaften, die in Schwerpunkt A genannt wurden: es ist häufig unsicher, vage, unvollständig und inkonsistent. Es ist deshalb davon auszugehen, daß die in Schwerpunkt A entwickelten Methoden sowie die entsprechenden Repräsentationssprachen (Schwerpunkt B) gerade bei der Entscheidungsunterstützung wesentlich sind.

Die Bestrebungen in der Wirtschaft, in Verwaltungen und sonstigen Einrichtungen, das explizit und implizit vorhandene Wissen zu bewahren und rechnergestützt zu nutzen, um dieses als wesentlichen Wettbewerbsfaktor einzusetzen, verlangt von der Wissenschaft, sich verstärkt der Modellierung und der Repräsentation von betrieblichem bzw. organisationalem Wissen zuzuwenden.

Ein wichtiger Teil der organisationalen Wissensbasis sind Referenzmodelle. Sie bilden die Geschäftsprozesse von Unternehmen oder Unternehmensbereichen in generalisierter Form ab. Eine Instanz eines Geschäftsprozesses, also der einmalige Ablauf, kann als Geschäftsfall bezeichnet werden, z.B. ein Verkaufsgespräch als Instanz des Geschäftsprozesses Verkauf (der seinerseits ein Teilprozeß innerhalb der Auftragsabwicklung ist). Diese Sichtweise legt es nahe, Techniken des fallbasierten Schließens einzusetzen. Tatsächlich wurden solche Techniken am IWI bereits erfolgreich für entscheidungsunterstützende Systeme verwendet. Zu untersuchen wäre, für welche betrieblichen Funktionsbereiche eine solche fallorientierte Prozeßbetrachtung sinnvoll ist, und welche technischen und organisatorischen Bedingungen erfüllt sein müssen, um Geschäftsfälle zu erfassen, zu speichern und abzurufen.

Die weitere Erforschung der Tragfähigkeit dieses Ansatzes sowie seine Integration mit anderen wissensbasierten Techniken, etwa klassischen Expertensystemtechniken sowie Techniken der Behandlung von unsicherem und unvollständigem Wissen, spielt hier eine zentrale Rolle. Weiterhin soll das in den umfangreichen betrieblichen Datenmengen implizit enthaltene Wissen identifiziert, präsentiert und dem Anwender bereitgestellt werden. Dazu wird untersucht, inwieweit die Vorgehensweisen und Methoden des Data Mining zu nutzen bzw. weiterzuentwickeln sind.

In einem weiteren Projekt geht es um das wissensbasierte Management von Krankenhausinformationssystemen. Soll im Rahmen der Entwicklung oder Erweiterung eines solchen komplexen Systems am Markt verfügbare Anwendungssoftware ausgewählt bzw. ihre Entwicklung in Auftrag gegeben werden, so sind hierfür umfangreiche Spezifikationen erforderlich. Diese werden auf der Basis von Systemanalysen erstellt, in denen Wissen über die künftig mit rechnergestützten Werkzeugen zu unterstützenden Abläufe im Krankenhaus und die betroffenen Strukturen zusammengetragen wird. Dieses Wissen wird ausgewertet und es werden Spezifikationen abgeleitet.

Diese Aufgaben des Managements von Krankenhausinformationssystemen werden bislang nicht ausreichend systematisch und weitgehend ohne unterstützende Werkzeuge erledigt. Lediglich für die Modellierung des Prozeßwissens werden vereinzelt Werkzeuge zur Modellierung von Geschäftsprozessen (etwa ARIS, BONAPART, INCOME) eingesetzt. Der damit verbundene Aufwand ist erheblich. Ziel der Forschung ist eine Methode zur systematischen Ableitung angemessener Spezifikationen für Anwendungssoftwareprodukte aus formal repräsentiertem Prozeß- und Strukturwissen über ein Krankenhausinformationssystem. Hierzu sind insbesondere folgende Fragestellungen zu bearbeiten: Wie kann Prozeß- und Strukturwissen über Krankenhausinformationssysteme modelliert und formal so repräsentiert werden, daß Spezifikationen für Anwendungssoftwareprodukte ableitbar sind? Welche Anforderungen sind an entsprechende Modellierungswerkzeuge zu stellen? Wie kann ein entsprechender Inferenzmechanismus aussehen?

Das IMISE beschäftigt sich in einem Teil seiner wissenschaftlichen Projekte mit Fragestellungen aus der Hämatoonkologie. Diese berühren einerseits das Verständnis grundlegender Systemeigenschaften schnell regenerativer zellulärer Systeme, wie die Blutbildung und Epithelentwicklung, und andererseits die Konzeption und Durchführung von großen multizentrischen Therapiestudien mit definierten Behandlungsprotokollen bei bestimmten Tumorerkrankungen. Es existieren derzeit in Deutschland vermutlich einige Hundert solcher Protokolle im Bereich der Hämatoonkologie mit einer mittleren Lebensdauer von ca. zwei bis drei Jahren, so daß eine ständige Aktualisierung Einfluß auf die Versorgungsqualität haben könnte.

In diesem Zusammenhang soll auf der Basis bestehender Vorarbeiten ein Informations- und Konsultationssystem zur Auswahl und Planung hämatoonkologischer Therapiestudienprotokolle entwickelt werden, welches behandelnde Ärzte bei der Therapieauswahl und -planung unterstützt. Hierfür ist eine adäquate Repräsentation von zugelassenen Studienprotokollen mit deren Ablaufschemata, Ein- und Ausschlußkriterien sowie Angaben zum Zustand der Protokolle, zu Zwischenergebnissen und logistischen Aspekten erforderlich. Des weiteren müssen Suchverfahren für geeignete Protokolle, Berechnungsalgorithmen für Chemotherapiedosen sowie eine kontinuierliche Dokumentation des Therapieverlaufes bereitgestellt werden.

Ein weiteres Thema ist die Repräsentation von unsicherem Wissen in differentialdiagnostischen Entscheidungsprozessen am Beispiel der Lymphome und der Leukämie. Ziel ist die Spezifikation unterschiedlicher Modelle (z.B. wahrscheinlichkeitstheoretische, regelbasierte und Fuzzy-Modelle) zu differentialdiagnostischen Entscheidungsprozessen und die Bewertung ihrer Leistungsfähigkeit. Die Operationalisierung der Modelle sollte zum einen eine Unterstützung bei der Planung des diagnostischen Prozesses liefern und zum anderen eine Sensitivitätsanalyse hinsichtlich der therapeutischen Konsequenzen gestatten. Dabei sollen unterschiedliche Wissensqualitäten, z.B. Patientensymptome, körperliche Untersuchungsbefunde, Laborbefunde, Befunde von bildgebenden Verfahren, genetische Befunde, histopathologische Klassifikation (Goldstandard) und therapeutische Konsequenz adäquat berücksichtigt werden.

Ein weiteres Forschungsthema am IMISE ist die Therapieoptimierung von hämatotoxischer Chemotherapie auf der Basis eines generischen Modells und vorliegender Beobachtungen an umfangreichen Datensätzen. Am IMISE werden Simulationsmodelle der Blutbildungsregulation erarbeitet. Sie beruhen auf Systemen von nichtlinearen Differentialgleichungen. Es liegen Modelle von drei Organsystemen für Maus, Hund und Mensch vor. Die Modelle haben ihren Platz bisher in der Grundlagenforschung, da sie eingesetzt werden, um grundsätzliche Fragen über verschiedene Wirkprozesse und Systemdynamiken zu klären. Sie haben sich jedoch in einem solchen Maße verbessert, daß ein kontrollierter Einsatz im Bereich der Therapieoptimierung erreichbar erscheint. Ziel ist es, ein Modell zu entwickeln, das einerseits auf den generischen Verhaltensweisen des Differentialgleichungsmodells aufbaut, andererseits das Wissen um die Variabilität in einer Patientenpopulation berücksichtigt und gegebenenfalls auch die im Verlauf bei einem Patienten gemachten Beobachtungen mit einbezieht. Es wäre wünschenswert ein solches Verfahren zunächst hinsichtlich seiner prädiktiven Fähigkeiten im Einzelverlauf zu prüfen und dann für die Planung von neuen Therapieschemata einzusetzen.

Ein wesentliches Kriterium für die Akzeptanz eines entscheidungsunterstützenden Systems ist dessen Erklärungsfähigkeit. Das Thema Erklärung wird in Schwerpunkt C aus philosophisch/wissenschaftstheoretischer Perspektive behandelt. Hier sollen Methoden entwickelt werden, die sich aus den konkreten Anforderungen bestimmter Anwendungen ergeben, nämlich Methoden der Erklärungsgenerierung für Therapieplanungssysteme.

Das Problem der Generierung geeigneter Erklärungen verschärft sich, wenn

1. der Problemlösungsprozeß (PLP) sich über längere Zeiträume erstreckt,

2. die Notwendigkeit der Begründung eines (Teil-)Ergebnisses oft noch Wochen oder Monate nach der eigentlichen Problemlösung entstehen kann, und

3. der PLP aus einem komplexen Zusammenspiel zwischen maschinellen Agenten und menschlichen Benutzern besteht.

All dies ist beim Einsatz wissensbasierter Therapieplanungssysteme in der Medizin der Fall (Behandlung chronisch kranker Patienten etc.). Die drei Punkte implizieren letztlich, daß die Fallbasis den kausalen, fallspezifischen Entscheidungsgraphen, in dem die einzelnen Planungsschritte festgehalten werden, über die eigentliche Problemlösung hinaus persistent repräsentieren muß.

Insbesondere Punkt 3. erzwingt - jedenfalls bei der Notwendigkeit einer vollständigen Erklärungsfähigkeit des Systems -, daß die in den automatischen PLP eingreifenden fallspezifischen humanen Entscheidungsketten persistent gehalten und vor allem auch akquiriert werden können. Ist dies gewährleistet, so kann eine Erklärung zu einem späteren Zeitpunkt durch einen Mischansatz von maschineller Rekonstruktion und Retrieval des fallspezifischen Entscheidungsgraphen aus der Fallbasis generiert werden. Geht man davon aus, daß das Fallwissen (z.B die Daten eines langjährigen Patienten) in einer Datenbank gehalten wird, so bedeutet dies, daß nun zusätzlich zu den eigentlichen Daten auch komplexe Beziehungen zwischen diesen abgebildet werden müssen, (etwa: A begründet B, die Entscheidung E1 revidiert die Entscheidung E2, die Entscheidung E wurde getroffen, weil A und B sich widersprechen etc.).

Die Repräsentation solchen problemlösungsbezogenen Meta-Fallwissens übersteigt dabei grundsätzlich die Fähigkeit relationaler und auch objektorientierter Technologien. Existierenden Ansätzen ist gemeinsam, daß temporale Erklärungsaspekte bei langwierigen PLP nur ungenügend unterstützt werden. Weiterhin kann der Benutzer zwar mit dem PLP interagieren, hat aber kaum Möglichkeiten, fallspezifisch seine Entscheidungen zu begründen. Vor allem bei Large-Scale Systemen mit komplexer Mensch-Maschine-Interaktion sind vollständige Erklärungen deshalb retrospektiv oft nur sehr unvollständig zu rekonstruieren. Forschungsgegenstand ist daher die Entwicklung von geeigneten Akquisitions-, Repräsentations- und Retrieval-Mechanismen für das persistente Management fallspezifischer Entscheidungsgraphen in wissensbasierten Systemen, die durch die oben genannten Eigenschaften charakterisiert sind.

Mögliche Dissertationsthemen:

Geschäftsfälle und Referenzmodelle als Konzepte der Repräsentation organisationalen Wissens

Nutzung von Data Mining Methoden zur Bereitstellung von Wissen für Entscheidungsträger

Ableitung von Spezifikationen für Anwendungssoftwareprodukte aus Prozeß- und Strukturwissen über ein Krankenhausinformationssystem

Repräsentation von unsicherem Wissen in differentialdiagnostischen Entscheidungsprozessen am Beispiel der Lymphome und der Leukämie

Therapieoptimierung von hämatotoxischer Chemotherapie auf der Basis eines generischen Modells und vorliegender Beobachtungen

Strukturierte Repräsentation fallspezifischer Entscheidungsprozesse in Datenbanken mit logikorientierten Graphen

Akquisition, Retrieval und Verarbeitung von Entscheidungsgraphen

Spezifikation einer terminologischen Basis für die Hämato-Onkologie